MINDFUL MONDAY (84) von Reto Weishaupt

Die letzten drei Tage verbrachte ich in einem buddhistischen Retreat zum Thema „Leerheit – Erkenne die Wirklichkeit“ im Kailash International Retreat Center in Törbel hoch oben über dem Eingang des Mattertales mit einer bezaubernden Aussicht Richtung Zermatt (siehe Bild).

Das Retreat-Zentrum gehört zur Neuen Kadampa Tradition, eine Schule des Mahayana-Buddhismus. Das Retreat wurde geleitet von Kadam Hélène Oester aus Bern. In der Retreat-Ausschreibung hiess es, dass es keine bessere Methode gäbe, geistigen Frieden und Glück zu erfahren, als Leerheit zu verstehen und darüber zu meditieren. Das hörte sich für mich vielversprechend an. Über Leere oder Leerheit wusste ich bis dato relativ wenig. Ich wusste aber, für Buddhisten ist das Hauptthema der Übung in Weisheit die Leerheit.

Rituale

Ich hatte zu Beginn Mühe mit den Ritualen. Das Verbeugen, Singen und Beten resp. Rezitieren vor der Meditation war mir fremd und etwas in mir sträubte sich dagegen. Mit der Zeit konnte ich mich damit anfreunden, mich in einer annehmenden Grundhaltung und Gelassenheit üben sowie mich erfreuen an der spürbaren Demut und dem Frieden der anderen Teilnehmern.

Begriff Leerheit

Der Begriff der Leerheit oder Leere leitet sich gemäss Definition unmittelbar aus der buddhistischen Lehre vom Nicht-Selbst ab. Er verweist auf die Substanzlosigkeit (Selbstlosigkeit) aller Phänomene infolge ihrer Abhängigkeit von bedingenden Faktoren, ihrem bedingten Entstehen. Leerheit ist somit eine Umschreibung für das Fehlen eines konstanten Seins, einer Eigennatur und eines beständigen Ichs im steten Wandel der Existenz. Die Erscheinungen sind in ihrer Leerheit ohne inhärente Eigenschaften und damit nicht mehr als nominalistische Begriffe resp. Zuschreibungen.

„No self, No problem.“
Anam Thubten

Erkenntnisse über die Leerheit aller Dinge

Was inhaltlich zunächst abstrakt und undeutlich daherkommt, wandelte sich dank verständlichen Erklärungen sowie Konzentration und Geduld in eine neue Sicht der Wahrnehmung der Realität. Aus dem Retreat habe ich verschiedene Aspekte mitgenommen, die ich noch tiefer ergründen möchte, in kompakter Form schon jetzt mit dir teilen möchte:

1. Die Erscheinungen aller Dinge (inkl. Menschen) empfinden wir als fest, solid, real, wahrhaft, inhärent (aus sich selbst heraus, innewohnend) und unabhängig von unserem Geist existierend. Wir haben das Gefühl, dass alles im Aussen auch ohne unseren Geist existieren kann. „Das stimmt nicht.“ sagen Buddha, Dalai Lama, Geshe Kelsang Gyatso und viele weitere spirituelle Lehrer.

2. Vielmehr existieren alle Dinge nur in Verbindung mit unserem Geist. Alle Phänomene, Erscheinungen und Dinge sind leer von inhärenter Existenz. Sie sind nur Erscheinungen des Geistes, völlig abhängig vom Geist, der sie wahrnimmt. Da alle Dinge in Abhängigkeit entstanden sind, sind sie leer von inhärenter, innewohnender Existenz.

3. Wie können wir mit Sicherheit wissen, dass die Dinge wirklich so sind, wie sie (er)scheinen? Es besteht die Herausforderung die Erscheinungen, wie sie uns erscheinen, nicht mehr einfach so zu glauben, sondern interessiert zu hinterfragen. Das ist nicht einfach, mir fiel es schwer mich dafür zu öffnen. Zwei Beispiele haben mir dann geholfen meine zementierte Meinung ein bisschen näher zu untersuchen.

Beispiel eins: Eine Person ärgert mich. Ich reagiere mit Ablehnung in Form von Wut. In diesem Moment erscheint es mir so, als dass dies eine schlechte Person sei. Das erscheint mir aber nur so. Denn andere können gleichzeitig finden, dass diese Person doch ganz nett sei. Sie ist also nicht von sich aus wahrhaft schlecht. Ich projiziere nur in meinem Geist das für mich negative Erscheinende auf diese Person. Die Person erscheint also nur in meinem Geist so.

Beispiel zwei: Ein Regenbogen existiert nicht unabhängig aus sich heraus. Das erscheint uns nur so. Er ist leer von inhärenter Existenz. Er entsteht in Abhängigkeit von mindestens drei Dingen: Wasser, Licht und die Position von wo ich ihn betrachte. Alle Dinge sind von verschiedenen Dingen abhängig und in sich leer, also nicht von innen heraus existent.

4. Wie finde ich heraus, ob etwas wirklich leer ist? Buddha sagt, das Objekt sei zu untersuchen. Und am besten beginnen wir mit dieser Untersuchung bei unserem eigenen Körper, da wir am meisten Anhaftung an unseren Körper haben. Ich kann die innere Erfahrung machen, dass mein Körper nicht so ist, wie er mir erscheint. Dann finde ich nicht den Körper, sondern ich finde Leerheit. Dasselbe gilt für unseren Geist. Und ich finde bei genauerer Untersuchung die Leerheit des Selbst (Nicht-Selbst).

5. Die Identifikation und das Festhalten an unserem Körper und Geist führt in uns zu einer übersteigerten Wichtigkeit des Ichs/Egos. Dies führt im Alltag zu negativen Gedanken und Handlungen im Sinne von Anhaftung und Ablehnung. Unser Geist des Friedens wird dadurch zerstört. Wir leiden. Wir nehmen uns, das Ich/Ego, zu wichtig.

6. Verbindet man die intellektuell-spirituelle Analyse der Leerheit mit intensiver einsgerichteter Konzentration in der Meditation, so kann sich nach langer Übung eine unmittelbare Erfahrung der Leerheit des Körpers oder des Selbst einstellen. Leerheit verstehen, wahrnehmen, erspüren, in Kontakt treten. Anhaftung, Ablehnung und Leiden schwinden. Geistiger Frieden manifestiert sich.

 

Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Leerheit aller Dinge und die Meditation darüber ist nach meiner Einschätzung und Erfahrung anspruchsvoll und eine fundierte Einführung mit Möglichkeiten des Austausches sind empfehlenswert und von Vorteil.

„Denken Sie oft darüber nach, wie Phänomene in Abhängigkeit von Ursachen und
Bedingungen entstehen, und versuchen Sie zu erkennen, wie dieses Entstehen in
Abhängigkeit der Art und Weise entgegengesetzt ist, wie Personen und Dinge erscheinen:
als stabil existent, als aus sich selbst heraus existierend, als inhärent existierend.“
– Dalai Lama

Das Thema Leerheit und Nicht-Selbst ist in diesem Text natürlich nur am Rande angeschnitten. Vielleicht hat es dein Interesse geweckt mehr zu erfahren. Weitere Informationen zur Leerheit findest du z.B. hier:
– Artikel „Dalai Lama – Die Leerheit verstehen
– Artikel in der Zeitschrift „Tibet und Buddhismus
– Artikel „Meditation über Leerheit: Untersuchung von vier Punkten
– Video 40 min „Abhängiges Entstehen und Leerheit – Fred von Allmen

 

Reto

P.S. Die Wörter „anscheinend“ und „scheinbar“ werden häufig falsch benutzt. Der Duden erklärt den Unterschied so: „Mit anscheinend wird die Vermutung zum Ausdruck gebracht, dass etwas so ist, wie es erscheint. […] Das Wort scheinbar besagt, dass etwas nur dem Schein nach, nicht aber in Wirklichkeit so ist, wie es erscheint. Es steht im Gegensatz zu wirklich, wahr, tatsächlich.“

 

 


Reto Weishaupt
ist Meditationslehrer und Achtsamkeitscoach bei MINDFULMIND. Meditation ist für ihn ein starkes Instrument, das er zur Geistes- und Herzensschulung gerne weiter gibt – undogmatisch, säkular und frei von Ideologie. „It’s all about cultivating mind and heart.“

 

 

 

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