MINDFUL MONDAY (92) von Reto Weishaupt

Dieses 3-min-Video von Brené Brown gibt wertvolle und wichtige Hinweise, welche Haltung und Reaktion förderlich und heilvoll ist, wenn wir in schwierigen Situationen sind und leiden. Mitleid hilft kaum, Empathie schon eher, Mitgefühl ist der Schlüssel.

Verbindung anstatt Ratschlag

Erkennst du dich im Video ein klein wenig wieder? Wie oft fallen wir doch ins Schönreden und Ratschläge geben, wenn wir merken, dass unser Gegenüber leidet! „Wenigstens hast du noch dies.“ „Immerhin ist jenes nicht eingetreten.“ „Und hast du schon folgendes probiert?“ Ohne gefragt zu werden geben wir Ratschläge, anstatt dem andern zu signalisieren, dass wir verstehen, dass es gerade schwierig ist und dass wir einfach nur da sind für sie/ihn.

Empathie ist nicht gleich Mitgefühl ist nicht gleich Mitleid

Was ist der Unterschied zwischen Empathie, Mitgefühl und Mitleid? Gar nicht so eindeutig, die Begriffe sind nah beieinander. Zudem werden sie nicht überall genau gleich definiert, gerade auch im Englischen, was eine Diskussion darüber nicht vereinfacht. Auch im populären Video oben aus dem Jahr 2013 wird das englische Wort ‚empathy‘ benutzt im Sinne des deutschen Wortes ‚Mitgefühl‘. Mittlerweile wird wohl das englische Wort ‚compassion‘ häufiger dafür gebraucht.

Nachfolgend die Begriffsdefinitionen zuerst gemäss Duden sowie nachfolgend mit weiteren Erläuterungen, welche die feinen, aber gewichtigen Unterschiede aufzeigen. Es ist jedoch anzumerken, es gibt nicht DIE Definition, was Empathie ist, sondern es gibt verschiedene Meinungen:

  • Empathie (engl. empathy) = „Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen“ (Duden). Ein generelles Einfühlungsvermögen; eine soziale Emotion; ich fühle WAS resp. WIE ein anderer Mensch fühlt. Empathie ist sozusagen die Grundschwingung des Mitgefühls und des Mitleids. Es besteht eine verstehende Resonanz. Ich fühle mit, verspüre in erster Linie jedoch nicht den Impuls mich um dich zu kümmern. Ich fühle mich evtl. sogar entmutigt und hilflos.
  • Mitgefühl (engl. compassion) = „Anteilnahme am Leid, an der Not o. Ä. anderer“ (Duden). Ich nehme Anteil an den schwierigen Gefühlen (Angst, Schmerz, Sorgen, etc.) eines anderen Menschen. Ich bin fürsorglich und kümmere mich um den anderen mit einem Gefühl der Wärme und indem ich in Verbindung bin. Ich fühle MIT, ich habe positive Emotionen FÜR jemanden. Ich fühle das Leiden anderer, nehme es zu Herzen – verbunden mit der Heilkraft der Liebe, ohne ganz in das Leid hineingezogen zu werden. Ich möchte dir helfen und dein Leiden mildern (prosoziale Motivation), indem ich präsent, wohlwollend und liebevoll bei dir bin.
  • Mitleid (engl. sympathy) = „Starke (sich in einem Impuls zum Helfen, Trösten o. Ä. äussernde) innere Anteilnahme am Leid, an der Not o. Ä. anderer“ (Duden). Ich anerkenne das Leiden eines anderen Menschen, meist mit einem Gefühl von Unbehagen. Ich möchte helfen, trösten, aufmuntern, um so das Leiden des andern mildern. Ich bin besorgt, jedoch mit einer gewissen Distanz und Abwehr – teils bin ich handlungsunfähig, weil mich das Leiden fast erdrückt.

Bei Empathie fühlen wir also WAS die/der andere fühlt, bei Mitgefühl fühlen wir MIT ihr/ihm. Bei Empathie kann das Leid des anderen so stark geteilt werden, dass das Erleben negativer Emotionen überwältigend werden und zum Rückzug führen kann. Demgegenüber ermöglicht uns die Geistesqualität des Gleichmutes (Gelassenheit) mitzufühlen, ohne uns distanzieren zu müssen oder selbst in Leid zu versinken.

Was ist Mitgefühl?

Es erscheint mir wichtig, die heilvolle Qualität des Mitgefühls in der Tiefe zu verstehen, weil es eine sehr wertvolle mentale und emotionale Ressource ist, die unsere Resilienz (Widerstandskraft) und unser prosoziales Verhalten stärkt. Es verbindet Menschen anstatt sie zu trennen. Mitgefühl stärkt unsere innere, aktive, gutmütige Entscheidkraft, Leidenden zu helfen. Sie führt nicht zu Frustration und Hilflosigkeit. Mitgefühl stumpft zudem nicht ab, wenn wir regelmässig oder häufiger mitfühlend agieren. Mitgefühl schenkt uns und unserem Gegenüber Mut, Kraft und Liebe in kleinen und grösseren Notlagen.

Marianne Tatschner von der Universität Frankfurt hat für mich sehr treffend auf den Punkt gebracht, was Mitgefühl von Mitleid unterscheidet: Mitgefühl hat nichts damit zu tun, sich oder jemand anderen zu bemitleiden. Mitleid entsteht durch einen getrennten, kalten Blick, nicht selten „von oben herab“. Mitgefühl dagegen ist warm und zugewandt und entsteht im vollen Bewusstsein dessen, dass wir alle schwierigen Erfahrungen machen, dass es – auf der tiefsten menschlichen Ebene – „oben“ und „unten“ nicht gibt.

Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung, war vor ca. 20 Jahren die erste, die das buddhistische Konzept des Selbstmitgefühls psychologisch erforschte. Sie definiert Mitgefühl wie folgt: „Sich vom Leiden anderer berühren lassen, ein gegenüber dem Leiden anderer offenes Gewahrsein, d.h. deren Leiden nicht zu vermeiden und sich nicht davon abzuschneiden, sodass sich ein Wohlwollen gegenüber anderen entwickelt und der Wunsch, das Leiden zu verringern. Es enthält auch ein nicht bewertendes Verstehen gegenüber jenen, die scheitern oder Fehler machen.“

Mitgefühl und Selbstmitgefühl

Die Grundlage für Mitgefühl gegenüber anderen ist die Fähigkeit, mit den eigenen Gefühlen wohlwollend verbunden zu sein – Mitgefühl mit sich selbst, genannt Selbstmitgefühl. Hierbei versuchen wir bewusst liebende Güte für uns selbst zu entwickeln, wenn es gerade schwierig ist. Dies ist herausfordernd und benötigt – wie jede Meditation oder jede neue Gewohnheit – Ausdauer und Übung.

Es wird der Zeitpunkt kommen, wo es einfacher fällt, mit „schwierigen“ Gefühlen oder Gedanken zu sein. Freundlich in Kontakt sein mit dem, was gerade da ist. Es nicht weghaben wollen, sondern anerkennen und liebevoll Freundschaft schliessen. Es ist aktuell ein Teil der Erfahrung, aber es ist nicht alles („Du hast ein Gefühl, aber du bist nicht ein Gefühl.“). Mit der Zeit verliert diese „schwierige“ Empfindung an Kraft, sie kommt und geht, bis sie sich irgendwann in wohlwollender Akzeptanz auflöst.

Mitgefühl im Alltag

Sharon Salzberg schreibt in ihrem Buch „Metta“ ungemein passend: „Selbst eine schlichte Handlung kann sehr viel verändern. Vielleicht können wir einem Menschen nicht die grosse Last seines Leids abnehmen, aber wir können für ihn da sein. Selbst wenn unser Dasein nur bewirkt, dass sich jemand in seinem Leid nicht mehr ganz so allein fühlt wie zuvor, ist dies ein sehr grosses Hilfsangebot.“

Mitgefühl ist alltagstauglich und praktisch. Mitgefühl führt zu hilfsbereitem Handeln. Es kann konkret heissen, einer älteren Person im Bus den Sitzplatz freizugeben, falls er/sie gerne einen hätte. Mitgefühl kann heissen, einem Bettler auf der Strasse etwas zu geben und ihm freundlich zuzunicken mit einem Gefühl von echter Verbundenheit. Eine mitfühlende Tat muss nicht spektakulär sein. ‚Guten Tag‘ sagen (und es wirklich meinen), fragen was geschehen ist (mit ernsthaftem Interesse), wirklich da sein.

Mitgefühl können wir bewusst entwickeln. Die Übung von Selbstmitgefühlsmeditation und Mitgefühlsmeditation oder der tibetisch-buddhistischen Mitgefühls-Praxis Tonglen kann uns dabei unterstützen im Alltag mitfühlend(er) zu sein. Lerne, dich im Alltag nicht von Gefühlen wie Mitleid leiten zu lassen, sondern trete einen Schritt zurück und handle dann auf achtsame, überlegte Weise mitfühlend und weise.

 

„Die Achtsamkeit ist ein radikaler Impuls. Sie ermöglicht nicht nur Stressreduktion, sondern auch Selbsterkenntnis und Mitgefühl.“
– Stefan Büchi (ärztlicher Direktor der Privatklinik Hohenegg in Meilen)

 

Spiegelneuronen in unserem Gehirn

Es sind die sogenannten „Spiegelneuronen“ in unserem Gehirn, die uns zu empathischen Wesen machen. Diese speziellen Nervenzellen zeigen das gleiche Aktivitätsmuster, wenn wir eine Handlung nur betrachten wie wenn wir sie selber ausführen. Werden wir z.B. Zeuge einer schmerzhaften Aktion eines Mitmenschen, sei es körperlich wie auch psychisch, empfinden wir ebenfalls Schmerz.

Ein Team um die deutsche Forscherin Tanja Singer konnte nachweisen, dass im neuronalen Netzwerk des Gehirns bei Empathie resp. Mitleid andere Hirnareale aktiviert werden als bei Mitgefühl. Die doch so ähnlichen Begriffe und Gefühle sind also auch aus Sicht der Neurowissenschaft nicht dasselbe.

Es gibt einen interessanten Video-Vortrag von Tanja Singer, der die ganze Thematik der Neurobiologie von Empathie und Mitgefühl anschaulich und sehr fundiert aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. U.a. erwähnt sie, dass sie und ihre Forschungskollegen ein Training entwickelt haben, womit sie Ärzte schulen, damit diese dank Mitgefühl in emotional schwierigen Situationen besser mit empathischem Stress umgehen können.

Zwei Schritte hin zum Mitgefühl

Dir der schwierigen Situation bewusstwerden und dich daran erinnern, dass du mitfühlend reagieren kannst, ist der erste Schritt. Die mentale Handlung und die innere Beziehung des Mitgefühls aufbauen und bestärken ist der zweite Schritt. Erst wenn wir handeln, wenn wir die Verantwortung für unsere Gedanken und Gefühle übernehmen und klar agieren, dann können wir unser Wesen und unsere Persönlichkeit langsam in eine mitfühlende Haltung entwickeln. Zum Wohle von uns selbst und zum Wohle unserer Mitmenschen.

 

Reto

 


Reto Weishaupt
ist Meditationslehrer und Achtsamkeitscoach bei MINDFULMIND. Meditation ist für ihn ein starkes Instrument, das er zur Geistes- und Herzensschulung gerne weiter gibt – undogmatisch, säkular und frei von Ideologie. „It’s all about cultivating mind and heart.“

 

 

 

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