MINDFUL MONDAY (110) von Reto Weishaupt

Achtsam sein bedeutet weit mehr als aufmerksam, wachsam, vorsichtig oder sorgfältig sein, so wie das Wort umgangssprachlich benutzt und im Wörterbuch definiert wird. Achtsamkeit ist eine besondere Form von Aufmerksamkeit, eine Qualität des Bewusstseins von Präsenz, Offenheit, Akzeptanz und Wohlwollen.

 

Definition von Achtsamkeit

Es gibt diverse unterschiedliche Definitionen von Achtsamkeit. In der westlichen Wissenschaft gibt es eine Studie resp. Literaturrecherche von Nilsson & Kazemi (2016), die im englischsprachigen Raum insgesamt 33 Definitionen fand. Heutzutage ist die Definition von Jon Kabat-Zinn häufig anzutreffen, aufgrund der Popularität der von ihm entwickelten MBSR-Kurse: „Aufmerksam sein auf eine bestimmte Art und Weise: absichtlich, im gegenwärtigen Moment und nicht wertend.“ Diese Definition wird auch 2015 in dieser Studie von Lutz et al. bestätigt.

Den letzten Aspekt des Nicht-Wertens resp. Nicht-Urteilens möchte ich näher umschreiben, weil er häufig missverstanden wird. Bewerten und beurteilen an sich ist (im Alltag) nicht schlecht oder böse. Im Zusammenhang mit Achtsamkeit geht es darum, dass wir nicht gleich sofort – automatisch und reaktiv – eine (Be)Wertung abgeben, sondern innehalten und ein wenig inneren Raum schaffen. So können wir klarer erkennen, was gerade da ist (Situation aussen, Körper/Gedanken/Gefühle) und wie ich agieren möchte. Es geht darum, bewusster mit unseren Gedanken und Gefühlen umzugehen. Du bist nicht deine Gedanken.

Die Achtsamkeit (English: mindfulness, Pāli: sati, Sanskrit: smṛti) hat ihren Ursprung jedoch im Buddhismus, niedergeschrieben im Satipaṭṭhāna Sutta. Das Satipaṭṭhāna Sutta ist im Westen eine der am meisten studierten Lehrreden (über die Grundlagen der Achtsamkeit) im Pāli-Kanon, und bildet die Grundlage der zeitgenössischen Vipassana- resp. Achtsamkeitsmeditation. Der Pāli-Kanon ist die in der Sprache Pāli (mittelindische Literatursprache) verfasste, älteste zusammenhängend überlieferte Sammlung von Lehrreden des Buddha Siddhartha Gautama.

Das Satipaṭṭhāna Sutta wie auch moderne Übersetzungen sind laut der Buddhastiftung für die meisten unverständlich oder nur schwer verständlich, da Begriffe benutzt werden, die in der Alltagssprache nicht geläufig sind oder antike Vorstellungen, wie die der vier Elemente, die wir heute nur noch sinnbildlich verstehen können, wenn unser Bild von der Welt wissenschaftlich geprägt ist.

Die Buddhastiftung, welche sich für einen säkularen Buddhismus einsetzt, definiert Achtsamkeit wie folgt:

    • Achtsamkeit (Pali: sati) ist ein zentraler Begriff des Dharma, der Lehre des Buddha. Es wird auch übersetzt mit Gewahrsein, geistiger Präsenz, Bewusstheit oder Wachheit. Achtsamkeit ist die jedem Menschen innewohnende Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung zu nutzen und dem Hier und Jetzt zu begegnen, so wie es ist. Damit ist gemeint, dass wir uns in jedem Augenblick unserer momentanen Erfahrung und ihrer Umstände gewahr sind.
    • Bei der heute weitverbreiteten Achtsamkeits-Meditation ist der Fokus der Achtsamkeit gerichtet auf das gerade Geschehende, das mit einer offenen und wohlwollenden Haltung wahrgenommen wird. So kann z.B. die Aufmerksamkeit auf einen Gedanken, auf ein Gefühl, auf eine körperliche Empfindung oder auf die Umgebung gerichtet werden, ohne sich mit dem Wahrgenommenen zu identifizieren oder es zu bewerten.
    • Durch diese Perspektive kann sich die Erkenntnis entwickeln, dass unsere Wahrnehmungen (z.B. Gedanken) vergängliche Phänomene sind und wir die Gedanken weder besitzen noch wir die Gedanken “sind”. Die betrachtende Distanz der Achtsamkeit ermöglicht es, nach und nach weniger automatisch zu reagieren. Solche Momente der Nicht-Reaktivität wurden von Buddha als Nirvana bezeichnet.

Achtsamkeit, als eine universelle menschliche und trainierbare Fähigkeit und Haltung, stellt nicht nur ein wichtiges Element vieler spirituell-religiöser Traditionen dar, sondern gilt weltanschaulich als absolut neutral.

 

„Wissen was wir tun, während wir es tun.“
– David Dewulf

 

Innere Haltungen der Achtsamkeit

Achtsamkeit ist die grundlegende Aufmerksamkeitshaltung resp. geistige Qualität, die allen Strömungen der buddhistischen Meditationspraxis im fernen Osten zugrunde liegt:

    • Theravada Tradition: Sri Lanka, Myanmar/Burma, Thailand, Kambodscha, Laos, Teile Indiens
    • Mahayana Tradition: China (Chan), Vietnam, Taiwan, Korea, Vietnam, Japan (Zen), Malaysia
    • Vajrayana Tradition: Tibet, Nepal, Teile Indiens, Teile Bhutans, Teile Chinas, Mongolei

Jon Kabat-Zinn betont, dass in diesen Traditionen die eigentliche Praxis der Achtsamkeit immer in einen grösseren konzeptionellen und praxisbezogenen ethischen Rahmen eingebettet ist, der auf Nicht-Schaden ausgerichtet ist. Diese Sichtweise beinhaltet ein geschicktes Verständnis dafür, wie ungeprüftes Verhalten und ein ungeschulter Geist direkt zum Leiden des Menschen beitragen können, sowohl zum eigenen als auch zum Leiden anderer. Sie umfasst auch die mögliche Umwandlung dieses Leidens durch meditative Praktiken, die den Geist beruhigen und klären, das Herz öffnen und die Aufmerksamkeit und das Handeln verfeinern.

Kabat-Zinn führt weiter aus, dass Achtsamkeit resp. die Praxis von Achtsamkeit eine Art des Seins, eine Art des Sehens ist, welche verkörpert und entwickelt wird. Bei der Achtsamkeit geht es nicht darum irgendwo anders hinzukommen oder etwas zu reparieren. Vielmehr ist es eine Einladung, sich selbst zu erlauben dort zu sein, wo man bereits ist, und die innere und äussere Landschaft der direkten Erfahrung in jedem Moment zu erkennen.

Im asiatischen Sprachraum werden Mind/Geist und Heart/Herz in der Regel mit demselben Wort bezeichnet. So beinhaltet Achtsamkeit eine liebevolle, mitfühlende Qualität, einen Sinn für offenherzige, freundliche Präsenz und Interesse. Mit Achtsamkeit ist nicht nur eine Dimension des Geistes gemeint (mindfulness), sondern immer auch die des Herzens (heartfulness).

Zusammenfassend können folgende inneren Haltungen der Achtsamkeit zugeordnet werden (nicht abschliessend):

    • erwartungslos, nicht strebend
    • unvoreingenommen, interessiert, neugierig, Anfängergeist
    • wertfrei, nicht urteilend, nicht einteilend, nicht kategorisierend
    • akzeptierend, annehmend, offen, empfangend, nicht vermeidend
    • disidentifiziert, nicht identifiziert mit dem Objekt der Beobachtung
    • loslassend, sein lassend, gelassen
    • wohlwollend, freundlich, gütig
    • geduldig
    • vertrauend
    • dankbar, wertschätzend

Abschliessend sei auch die Videoserie über die 9 Geisteshaltungen der Achtsamkeit von Jon Kabat-Zinn erwähnt, welche ich sehr empfehlen kann.

 

Achtsamkeit kann helfen, eine neue Perspektive auf sich selbst, sein Leben und seine Probleme zu erhalten. Sie kann helfen, mehr mit sich selbst in Kontakt zu kommen und aus dem „Hamsterrad des Alltags“ auszusteigen – also eine Wahlfreiheit zu gewinnen und nicht so sehr aus dem Autopiloten-Modus heraus zu leben. Achtsamkeit kann uns aber auch in Kontakt mit unseren positiven Eigenschaften bringen wie Mitgefühl, Selbstmitgefühl und Dankbarkeit. Dies wiederum kann uns widerstandsfähiger im Umgang mit Krisen und sonstigen Herausforderungen im Leben machen.“
– Petra Meibert

 

Formale, informelle und interpersonelle Achtsamkeit

Achtsamkeit können wir kultivieren formal anhand von regelmässige Übungen, informell während unseren alltäglichen Handlungen sowie interpersonell in zwischenmenschlichen Beziehungen:

    • Formale Achtsamkeit: Meditation im Sitzen (Atemmeditation, Achtsamkeitsmeditation, Vipassanameditation, etc.), Meditation im Liegen (Bodyscan), Meditation im Gehen (Gehmeditation), Meditation in Bewegung (Dynamische Meditation, Tanz, etc.), Yoga (Hatha, Yin, etc.), Tai Chi, Qi Gong, …
    • Informelle Achtsamkeit: Essen, Zähneputzen, Hände waschen, Duschen, Abwaschen, Spazieren, Gärtnern, Joggen, Sprechen, Zuhören, …
    • Interpersonelle Achtsamkeit: in die Interaktion von Mensch zu Mensch, Gespräche, Schriftverkehr…

Diese drei Formen der Achtsamkeitspraxis ergänzen und bereichern sich gegenseitig. Es ist kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.

Einmal mehr Jon Kabat-Zinn weist wunderbar darauf hin, dass sich die Praxis der Achtsamkeit, sei es in den verschiedenen buddhistischen Traditionen oder in einem säkularen Kontext, nicht auf die Operationalisierung bestimmter Techniken beschränkt. Diese Techniken, wie z.B. die Achtsamkeitsmeditation, so wichtig und wesentlich sie auch sein mögen, sind lediglich Startrampen oder Hilfsmittel, die zur Kultivierung und Aufrechterhaltung der Achtsamkeit auf bestimmte Art und Weise einladen. Sie sind sozusagen das Menü, nicht die Mahlzeit oder die Landkarte, und nicht die Landschaft.

 

Benefits von Achtsamkeit

Und auch hier möchte ich noch ein letztes Mal Jon Kabat-Zinn zitieren (aus seinem Buch „Im Alltag Ruhe finden“), weil er es aus meiner Sicht sehr stimmig auf den Punkt bringt, was die Benefits von Achtsamkeit sind:

„Achtsamkeit bedeutet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen. Diese Art der Aufmerksamkeit steigert das Gewahrsein und fördert die Klarheit sowie die Fähigkeit, die Realität des gegenwärtigen Augenblicks zu akzeptieren. Sie macht uns die Tatsache bewusst, dass unser Leben aus einer Folge von Augenblicken besteht. Wenn wir in vielen dieser Augenblicke nicht völlig gegenwärtig sind, so übersehen wir nicht nur das, was in unserem Leben am wertvollsten ist, sondern wir erkennen auch nicht den Reichtum und die Tiefe unserer Möglichkeiten zu wachsen und uns zu verändern. (…) Achtsamkeit ist eine einfache und zugleich hochwirksame Methode, uns wieder in den Fluss des Lebens zu integrieren, uns wieder mit unserer Weisheit und Vitalität in Berührung zu bringen.“

Weitere nicht abschliessende Benefits aus eigener Erfahrung sind: Im Geist entsteht eine Atmosphäre, die offen, gegenwarts- und realitätsbezogen, interessiert, wach, klar, zugewandt, freundlich und sorgsam ist. Verfeinerte Wahrnehmung und Bewusstsein entsteht, für innere und äussere Empfindungen, welche das Leben vertiefen. Daraus können heilvolle Zustände wie Freude, Dankbarkeit, Gelassenheit und Mitgefühl entstehen. Wer Achtsamkeit regelmässig übt, lebt für mein Empfinden freier, ausgeglichener und weniger reaktiv. Mentale und emotionale Balance sowie innerer Frieden können sich entfalten.

Und auch die Wissenschaft hat mit steigender Kadenz in den letzten Jahren unzählige positive Wirkungen und Benefits erforscht und belegen können. Dazu findest du bei Interesse auf unserer Page Meditation & Wissenschaft weitere Infos.

 

„Notice all that is, and let it all end there.
Nothing more is needed, only the experience of experience itself.“

– Brian Thompson

 

Nächster Schritt

Als weiterführende „Lektüre“ kann ich das Interview mit Jon Kabat-Zinn in der Sendung Sternstunde Philosophie vom 14. Februar 2016 empfehlen.

Und natürlich möchte ich dir ans Herz legen, regelmässig in kleineren oder grösseren Schritten deine Achtsamkeit bewusst zu kultivieren. Hierfür gibt es viele Möglichkeiten, u.a. bietet auch MINDFULMIND eine Palette an Möglichkeiten.

Ich wünsche dir viele Momente der Achtsamkeit.

 

Reto

 


Reto Weishaupt
ist Meditationslehrer und Achtsamkeitscoach bei MINDFULMIND. Meditation ist für ihn ein starkes Instrument, das er zur Geistes- und Herzensschulung gerne weiter gibt – undogmatisch, säkular und frei von Ideologie. „It’s all about cultivating mind and heart.“

 

 

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